Thema: Unsichtbar

Hallo,
es ist ein sonniger Tag mitten im Juli. Ich sitze neben sechs Jungs aus meiner Klasse im Bus und wir diskutieren über die diesjährige Formel-1-Weltmeisterschaft. Nein, besser: Sie diskutieren darüber. Ich war noch nie wirklich ein Teil dieser Clique und das ist vermutlich besser so. Weiter vorne, ausreichend abgegrenzt von uns Jungs, wie sich das gehört, haben die Mädchen sich zum Essen in der Innenstadt verabredet, ich bekomme es nur zufällig mit. Manchmal frage ich mich, ob die Intensivierung von sozialen Kontakten bei ihnen anders stattfindet als durch Nackenklatscher und „lustige“ Intimwitze in der Sportumkleide. Diese Frage zu beantworten, ist nicht sonderlich schwierig.

Ich bin 15 Jahre alt, gehe in die 9. Klasse eines Gymnasiums und bin seit Jahren Außenseiter. Und ich kann es einfach nicht ändern. Meine Erfolglosigkeit in Sachen soziale Kontakte wird mir jeden Tag in einer Intensität aufgezeigt, mit der ich schwer zurechtkomme. Ich werde jeden Tag frustrierter und damit jeden Tag mutiger – dann merke ich, dass sich mein Mut nicht auszahlt und bin noch frustrierter. Ich werde weiterhin mitbekommen, dass meine Klassenkameradinnen eine Menge Freundinnen haben, mit denen sie Spaß haben, werde aber nie ein Teil davon sein, weil ich ein Junge bin – ganz wichtig, allein das ist Grund genug, mir mit einer gewissen Skepsis zu begegnen – und – noch wichtiger – weil ich unfähig bin, mich überhaupt in Gruppen zu integrieren.
Mein Frust mündet ab und zu in äußerst mutigen Aktionen, bei denen ich jedes Mal das Gefühl habe, dass ich mein Leben damit umkrempeln kann – und am Ende ändert sich nichts. Ist es falsch, ein Mädchen aus seiner Klasse, das einen seit zwei Jahren anhimmelt, mit einer ziemlich netten Instagram-Nachricht nach einer Freundschaft zu fragen, wie ich das vor acht Tagen getan habe? Es ist nichts passiert. Wir haben uns seitdem nicht gesehen, okay, aber eine Antwort habe ich nicht bekommen und das, obwohl sie mir nonverbal unübersehbar mitgeteilt hat, dass sie mich mag. Und das ist mal wieder typisch. Ich tue zwei Jahre lang absolut gar nichts, um einen Kontakt mit ihr herzustellen, bekomme kurz vor Schuljahresende die Krise, weil plötzlich mein Wunsch nach einer radikalen Änderung meines aktuell ziemlich monotonen Lebensstils meine enorm große Angst vor einer negativen Erfahrung überwiegt – und dann will ich sofort von null auf hundert, indem ich einer Person, mit der ich praktisch noch nie ein Wort gesprochen habe, über ein soziales Netzwerk mitteile, dass ich sie sehr sympathisch finde und mit ihr befreundet sein will.

Ich habe keine Lust, irgendwann eine verlorene Jugend nachholen zu müssen, aber ich habe das Gefühl, wenig daran ändern zu können. Ich kann mich komplett in den Mittelpunkt stellen und im Rahmen eines Projekts drei Stunden des Französischunterrichts alleine übernehmen. Ich kann Referate über Empathie und darüber, warum man seine Chancen im Leben nutzen sollte, halten. Ich kann mich während meines Praktikums komplett extrovertiert verhalten und ich kann eine ziemlich persönliche Sympathiebekundung an ein Mädchen schicken – es sind immer die Anderen mit emotionalen Bindungen zu Gleichaltrigen, obwohl vermutlich wenige so hohe Risiken dafür eingehen wie ich.

Vielleicht sollte ich mir ein Hobby suchen, anstatt jeden Tag in den Tiefen meines Selbsthasses und meiner Fehleranalyse zu versinken und „Das Leben war nie mein Freund“ von LGM in Dauerschleife zu hören. Meine beste Freundin ist depressiv und wir haben uns (wegen ihr!) zuletzt vor acht Monaten gesehen, obwohl wir fünf Minuten voneinander entfernt wohnen. Wir könnten uns so viel geben und noch glaube ich daran, dass Liebe die größten Probleme lösen kann. Aber vielleicht ist die Selbstliebe die einzige echte Liebe.

Felix

Hallo Catharina,
ich danke dir für deine Antwort! Dass ich diese Isolationsspirale zumindest noch nicht durchbrochen habe, hat meiner Meinung nach drei Gründe.

1. Ich verhalte mich grundsätzlich eher zurückhaltend und es fällt mir schwer, zu Leuten Vertrauen zu fassen. Das liegt vor allem daran, dass mir positive Erfahrungen fehlen und dass mich Menschen enttäuschen, von denen ich es am wenigsten erwartet hätte. Ich hätte beispielsweise niemals gedacht, dass meine Mitschülerin, die ich angeschrieben habe, mich als Reaktion sehr deutlich und konsequent ignoriert, allerdings plötzlich ein äußerst selbstbewusstes Auftreten an den Tag legt, als würde sie sich damit selbst schützen wollen. Es ist schon interessant, wie man sich in Menschen täuschen kann.
2. Ich wirke nicht wie jemand, mit dem man Spaß haben kann. Dass ich recht gut in der Schule bin, ist spätestens seitdem bekannt, als ich 140 von 140 Punkten in den ersten drei Spanisch-Prüfungen hatte. Und dass niemand auf die Idee kommt, einen ruhigen Streber auf eine Party einzuladen, dürfte einigermaßen klar sein.
3. Mein aktuelles soziales Umfeld ist begrenzt und passt nicht wirklich zu mir. Ich bin fünf Tage die Woche von sich teilweise sehr unreif benehmenden Jungs mit anderen Interessen umgeben, mit denen ich sofort jeglichen Kontakt abbrechen würde, wenn ich ernsthafte Alternativen hätte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mit den meisten Mädchen besser klarkommen würde, dafür müsste aber ein gewisses Entgegenkommen da sein, das ich so nicht spüre, und ich mache mich durch jeden Versuch, feststehende soziale Strukturen aufbrechen zu wollen – also von einer Jungs- in eine Mädchenclique wechseln zu wollen – angreifbar. Dass man bestens als Mobbingopfer taugt, sobald man in irgendeiner Form angreifbar ist, weiß ich seit meiner Grundschulzeit aus eigener Erfahrung.

Meine (ehemals?) beste Freundin ist für jegliche Aktionen aktuell nicht zu gebrauchen. Einerseits postet sie oft deprimierende Comics mit Überschriften wie „I am going to kill myself. I am so sick of this.“ in ihrem WhatsApp-Status, andererseits lässt sie sich von mir überhaupt nicht helfen. Ich weiß nicht, inwiefern man sie da ernst nehmen muss, aber ich finde das sehr belastend. Um meine Freizeit irgendwie wieder erfreulicher zu gestalten, würde mir ein Kontaktabbruch vielleicht sogar guttun, aber ich will jemanden mit Selbstmordgedanken nicht komplett alleine lassen. Bezüglich eines zukünftigen Hobbys kommen Sportvereine für mich eher nicht in Frage, weil die Wahrscheinlichkeit, interessante Menschen kennenzulernen, dort definitiv am geringsten ist. Ich finde die Schülerzeitung keine so schlechte Idee, allerdings kann ich da vermutlich auch sehr schnell auf dem Abstellgleis landen, weil letztendlich jeder an seinem eigenen Teil des Projekts arbeitet.

Liebe Grüße
Felix